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Interview mit Dr. Marlene Kirchner & Jessica Medcalf – VIER PFOTEN

Nur ein kleiner Anteil der in der Textilindustrie verwendeten Tierfasern verfügt derzeit über ein Tierwohlsiegel. Wir sprachen mit Dr. Marlene Kirchner, Tierärztin und führende Expertin für Nutztiere und Ernährung bei VIER PFOTEN, und Jessica Medcalf, Global Corporate Engagement Managerin der Organisation, über das sensible Thema Tierwohl in der Modeindustrie.

VIER PFOTEN setzt sich leidenschaftlich für das Thema Tierwohl in der Textilindustrie ein und sensibilisiert die Verbraucher für tierfreundliche Mode. Was genau wollen Sie erreichen?

Unsere Vision bei VIER PFOTEN ist eine Welt, in der tierfreundliche Mode die einzige Art von Mode ist. Um dies zu erreichen, ermutigen wir Modemarken, transparent und verantwortungsbewusst zu sein. Wir wissen, dass dies zu einem positiven Wandel führen wird. Wir sitzen „mit am Tisch“, bieten Mehrwert und Unterstützung und sind ein kritischer Freund der Modebranche. Wir glauben, dass das Aufzeigen guter und schlechter Praktiken, das Fördern der Entwicklung seriöser Zertifizierungsinitiativen und die Mobilisierung der Verbraucher wichtige Komponenten sind, um einen Wandel herbeizuführen.

Wie verbreitet ist das Problem des Tierleids in der Modeindustrie?

Ja, Tierleid gibt es in allen Tierfaserindustrien, aber derzeit bieten nur ganz wenige Unternehmen ein gewisses Maß an Transparenz hinsichtlich ihrer Tierwohlstandards. Dies genau versuchen wir zu ändern, sodass unzureichende Standards nicht länger verborgen bleiben. Auch die Gesetzgebung kann dazu beitragen, die Rahmenbedingungen und den Tierschutz zu verbessern. Gleichwohl müssen Unternehmen abscheuliche Haltungsmethoden und Mindestanforderungen, die Tierquälerei nicht verhindern, schnellstmöglich abstellen.

Welche Probleme bringt speziell die Kaschmirproduktion mit sich?

Es kann vorkommen, dass viele Grundbedürfnisse der Ziegen nicht ausreichend befriedigt werden, wie zum Beispiel der Zugang zu angemessenem Futter, das Weiden und der Auslauf; außerdem ein unbegrenzter Zugang zu Wasser und tierärztlicher Versorgung sowie die Möglichkeit, natürliche und soziale Verhaltensweisen auszuüben und positive mentale Zustände zu erleben. Ziegen sind oftmals auch grausamen Praktiken ausgesetzt, beispielsweise schmerzhaften Verstümmelungen, die ohne angemessene Betäubung und Schmerzminderung durchgeführt werden. Sie werden bisweilen unter unerträglichen Bedingungen über lange Strecken transportiert und häufig ohne vorherige Betäubung geschlachtet. Während ihres gesamten Lebens leiden sie unter den Schmerzen und dem Stress während der regelmäßigen Haarentfernung, bei der ihnen zudem die Beine zusammengebunden werden. Überdies kann das Scheren und Kämmen die Haut der Ziegen verletzen und zu Schmerzen und Infektionen führen. Das gewaltsame Festhalten oder Anbinden in einer liegenden Position für die Dauer der Haarentfernung ist für die Tiere, insbesondere für trächtige Ziegen, unglaublich stressig und kann sowohl beim Muttertier als auch beim ungeborenen Zicklein Verletzungen verursachen. Wenn Ziegen bei kaltem Wetter geschoren werden, versterben manche von ihnen aufgrund der plötzlichen Temperaturbelastung durch das Entfernen der Unterwolle, da sie kein gleichmäßig verteiltes Körperfett haben.

2020 hat die Aid by Trade Foundation den The Good Cashmere Standard eingeführt – den
weltweit ersten Standard für nachhaltig produzierten Kaschmir aus der Inneren Mongolei. Was sind die wichtigsten Aspekte des Standards aus Tierwohlsicht?

VIER PFOTEN ermutigt die Herausgeber von Standards, dem Five-Domains-Modell für Tierwohl zu folgen. Es berücksichtigt, wie sich die Umwelt, in der die Tiere leben, die Ernährungsqualität, der Gesundheitszustand und die Verhaltensinteraktionen, einschließlich derjenigen mit Menschen, auf den mentalen Zustand der Tiere auswirken. Das Hauptziel ist die Gewährleistung eines guten psychischen Zustands der Tiere, und um dies zu verwirklichen, muss ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden. Dementsprechend müssen die Standards sicherstellen, dass die Grundbedürfnisse der Tiere befriedigt, artspezifische Ressourcen zur Verfügung gestellt und grausame Haltungspraktiken, die Schmerzen, Qualen und Angst verursachen, unterlassen werden.

Was können Textilunternehmen und Modemarken tun, um das Tierwohl bei der Gewinnung von tierischen Fasern zu fördern?

Leider haben Modemarken und Textilunternehmen keine Tierwohlwissenschaftler in ihren Teams,
und während manche den direkten Kontakt zu ihren Lieferanten suchen, verlassen sich die meisten Marken auf Tierwohlsiegel. Die Nutzung eines hochwertigen Tierwohlsiegels wie des The Good Cashmere
Standards ist ein guter Anfang! Die meisten anderen Siegel, die es heute für die verschiedenen tierischen
Fasern gibt, garantieren leider kein angemessenes Tierwohlniveau. Deswegen würden wir es begrüßen,
wenn Modemarken nicht nur die verfügbaren Tierwohlsiegel nutzen, sondern auch mit deren Herausgebern zusammenarbeiten und diese unterstützen, um das Niveau anzuheben.

Welche Maßnahmen ergreift VIER PFOTEN, um das Tierwohl in der Modeindustrie zu steigern, insbesondere um Verbrauchern zu helfen, informierte Entscheidungen zu treffen?

Mit „Wear it Kind“ haben wir eine Rahmenkampagne gestartet, die Verantwortungsbewusstsein sowie
Mitgefühl wecken und fördern soll. Damit wollen wir erreichen, dass die Tiere, deren Erzeugnisse für alle
wichtigen textilen Lieferketten genutzt werden, auf ein ausgezeichnetes Tierwohlniveau kommen. Im Rahmen dieses Programms wenden wir uns vor allem an Modemarken, Textilunternehmen und Verbraucher und klären sie auf. Wir beteiligen uns aber ebenso an der Entwicklung von Standards und engagieren uns auf allen Ebenen der Branche. Darüber hinaus ist VIER PFOTEN beratend für Gruppen wie die OECD oder das IMVO-Bündnis für nachhaltige Textilien der niederländischen Regierung tätig.

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